Bemerkungen zur Edition historischer Quellen zwischen Informationsverlust und Informationsgewinnung.

Jede Edition bedeutet Informationsverlust.
Eine Edition ist nicht die Quelle selbst, sondern nur ein Repräsentant, der bestimmte Elemente einer materiellen Überlieferung in einer bestimmten Weise wiederzugeben versucht. Zunächst geht jede optische und materielle Information außerhalb der Ebene des Textes verloren. Dabei ist klar, daß die optische und materielle Konfiguration, in die der Text eingebunden ist, selbst wieder historische Informationen transportiert. Die Form der Schrift, wie die Struktur der Notation, wie die Form des Schriftträgers spricht über die Quelle in ihrem Entstehungszusammenhang.

Editionen formen die Texte nach gegenwärtigem Verständnis um und passen sie in ein Schema ein, das nicht das der Zeitgenossen ist. Individuelles Zeichenrepertoire, auch das der vielfachen Sonderzeichen und der Interpunktion geht verloren.

Editionen folgen bestimmten Vorgaben, die sich aus unterschiedlichen Fragestellungen ergeben. Die textliche Wiedergabe folgt einer bestimmten Perspektive, die Wert auf bestimmte Dinge legt und andere vernachlässigt. Eine philologische Edition folgt unter Umständen anderen Prämissen, als eine historische. Beide können zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen, die für die jeweils andere Seite unbrauchbar sind, weil nur bestimmte Informationen transportiert werden.

Ein Spezialfall: Bei paralleler Überlieferung kommt es zusätzlich zu Rekonstruktionsversuchen des Urtextes. Diese überlagern die Überlieferung in ihrer Individualität und Realität durch ein nivellierendes spekulatives Konstrukt.

Jede Edition bedeutet Informationsgewinn.
Texte der Vergangenheit sind in der Gegenwart nicht mehr unmittelbar verständlich und müssen deshalb erst verständlich gemacht werden. Dies betrifft die Lesbarkeit des Textes, wie Schwierigkeiten, die sich aus dem Unverständnis semantischer und syntaktischer Zusammenhänge ergibt. Eine Edition mit Erläuterungen zum Text und seinen Teilen oder mit Hinweisen auf das Verhältnis zum Urtext (bei abschriftlicher Überlieferung) ist in der Lage, durch die Ferne der Zeit oder durch Überlieferungsumstände verschüttete Informationen freizulegen. Neben diesen inneren Zusammenhängen steht jede Quelle in komplexen äußeren Zusammenhängen, die erläutert werden müssen, weil sie zum richtigen Verständnis der Quelle nötig sind. Anlaß, Umfeld, Träger und Zweck der Entstehung der Quelle lassen sie erst richtig interpretieren.

Das Ziel jeder Edition muß es folglich sein, den Informationsverlust möglichst zu verringern und die Informationsgewinnung möglichst zu erweitern.

Bisher galt für Editionen das Diktat des Buches.
Nicht die Form der Quelle, sondern die Form der Publikation dominierte die Form der Edition. Bücher folgen grundsätzlich einem linearen Modell. Auch wenn die Quelle selbst Buchform aufweist, ist die Edition doch grundsätzlich von anderer logischer Struktur. Die Aspekte der Informationsgewinnung legen sich, weil sie auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlichen Perspektiven folgen, mit vielfachen Querverbindungen und Außenbezügen eher netzartig um die Quelle. Auch bei traditionellen Editionen war dies in Ansätzen, denen die Möglichkeiten des Buches enge Grenzen setzte, der Fall: Auch die klassischen Editionsapparate spinnen sich wie Netze um einen Text, der von allen seinen Umständen zunächst entkleidet worden ist und nun durch die Apparate in ein neues System gekleidet werden soll.

Digitale Editionen sind in der Lage, die Distanz zwischen der Quelle als originaler Individualität und der Edition als einem benutzbaren und verständlichen Repräsentanten zu verringern. Auch digitale Editionen können nicht die Quelle selbst sein, weil auch sie nicht in der Lage sind, alle Informationen zu transportieren. Im Vergleich zu herkömmlichen Editionen dürfte die größere Nähe zum Original aber unstrittig sein.

Gleichzeitig werden einige Beschränkungen buchmäßiger Editionen aufgehoben. Mit der Wiedergabe von Originalseiten, Transkriptionen in verschiedenen Formen und unterschiedlichen Erläuterungsebenen kann eine vielstufige Edition erreicht werden, die eine pluralistische Nutzbarkeit ermöglicht. Nebeneinander können unterschiedliche Transkriptionen bestehen bleiben oder umgekehrt, auf jede spezialistische Transkription verzichtet werden, weil für besondere Fragestellungen ja eine Kontrolle an der optischen Oberfläche des Originals jederzeit möglich ist, und eine brutale Transkription entlang des ASCII-Codes effektivere Bearbeitungsmöglichkeiten schafft.

Digitale Editionen sind über bessere Such-, und Zugriffsmöglichkeiten effizienter zu benutzen. Der scheinbare Verlust an Übersichtlichkeit, der durch den Abschied vom linearen Modell und seine Ersetzung durch ein vielschichtiges, breites und vernetztes System eintritt, wird durch die Möglichkeit einer selektiven und zielgerichteten Rezeption in sein Gegenteil verkehrt.

Digitale Editionen erleichtern nicht nur die Rezeption, sondern auch die Verarbeitung. Alle Teile können ausgezogen und für die eigene Arbeit direkt übernommen werden.

Digitale Editionen sind kontrollierbar. Statt eines allmächtigen Editors, dessen Arbeit zu trauen man verurteilt ist, besteht die Möglichkeit der Kontrolle und des Vergleichs aller Editionsstufen (z.B. Bild - Transkription - Übersetzung). Außerdem verlieren sie das statische Element bisheriger Bucheditionen, die - einmal abgeschlossen - auf einem immer gleichen Stand verharren. Digitale Editionen sind jederzeit zu modifizieren und können deshalb auch schon auf einem niedrigeren Vollständigkeitsniveau publiziert werden. Als "Work in progress" sind sie viel früher verfügbar, als auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit ausgerichtete Bucheditionen und darüber hinaus erheblich fehlertoleranter. Nun wird wahrscheinlich der Verdacht aufkommen, daß sich aus ihrer Offenheit und dem Reiz des schnelleren Publizierens eine größere Fehlerhaftigkeit und ein niedrigeres Niveau ergibt. Das mag tendenziell stimmen; grundsätzlich ist aber wohl eher das Gegenteil der Fall: Alle Benutzer digitaler Editionen können zur Behebung von Fehlern beitragen, weil sie ja Einblick in die optische Oberfläche des Originals erhalten. Korrekturen an digitalen Editionen sind dann im Gegensatz zum Buch leicht vorzunehmen. Illusorisch wäre es ohnehin, zu glauben, daß klassische Editionen, die nach jahrelanger Arbeit einzelner Spezialisten endlich an die Öffentlichkeit kommen, fehlerfrei wären - diese Fehler sind allerdings kaum zu beheben!

Insgesamt stellen digitale Editionen eine den Quellen deutlich adäquatere Form von Informationsvermittlung dar. Sie sind in der Lage, die Originalquelle sichtbar zu machen und ihre zusätzlichen Informationsangebote um sie herum anzulagern, ohne daß dem Benutzer strenge Vorgaben gemacht würden, auf welche Weise er sie zu rezipieren habe. Die Wiedergabe von Texten in Büchern ist willkürlich, selektiv und eng begrenzt. Die sie umgebende Informationsvernetzung über Fußnoten, Apparate, Register, Konkordanzen o.ä. entsprechen, ohne das man es so genannt hätte, von der Idee her einem Hypertextsystem. Dieses kann nun endlich von den Beschränkungen des Buches gelöst und zu einem wirklich offenen, nur den Vorgaben der Quelle und einer pluralistischen Benutzergemeinde folgenden Informationssystem ausgestaltet werden.

Theorie und Demonstration: Auch dieser Text ist ein "work in progress". Brainstormartig mal eben so runtergeschrieben und an versteckter Stelle abgelegt. Wer sich trotzdem durchgequält hat und noch einen Kommentar dazu auf der Zunge liegen hat, bei dem bedanke ich mich schon mal für das anklicken meines Namens und das darauf folgende Ausfüllen eines E-mail-Formulars.


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Patrick Sahle, Sahle@uni-koeln.de